Identität und Differenz (Hall)
So weit folgt Hall dem différance-Begriff von Derrida. Das von Derrida angenommene „endlose Spiel der Differenzen“ verwirft er allerdings als zu akademisch und greift das Konzept von Laclau auf, nach dem zwar Bedeutung unmöglich fixiert werden kann, jeder Diskurs aber versucht, das Feld zu beherrschen. Dem dominanten Teilnehmer gelingt es zeitweilig, das Fließen der Differenzen aufzuhalten, um ein Zentrum zu konstruieren (Rezentrierung) und bestimmte Signifikanten zu privilegieren. An diesen Punkten entstehen Äquivalenzketten, der Bedeutungsfluss wird aufgehalten und an kontingenten Punkten willkürlich geschlossen. So entsteht die Fiktion von „Einheit“ und kollektiver sozialer Identität. Diese Einheit besteht nicht notwendig und kann auch wieder gelöst werden.
Hall, Stuart: „Wann war ‚der Postkolonialismus‘? Denken an der Grenze“. In: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 219-246
Periodisierung
Die Ambiguität des Begriffs, die mit dem Verzicht auf eine historische Einteilung in„epochale Stadien“ einhergeht, wird in Kauf genommen zugunsten des Verständnisses der Kolonialisierung als noch andauerndem Prozess.
Hall, Stuart: „Wann war ‚der Postkolonialismus‘? Denken an der Grenze“. In: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 219-246
Kolonisation
Dabei ist die transkulturelle Umformung keineswegs auf die kolonisierten Regionen beschränkt, sondern umfasst gleichermaßen die imperialen Metropolen.
Hall will – im Gegensatz zum Kolonialdiskurs anderer Theorien - die koloniale Begegnung nicht als binäre Opposition Colon –Kolonialherr verstanden wissen, sondern neu lesen als beiderseitige, wechselseitige Form der Transkulturation.
Konsequent wird auch das Verständnis der kolonialen Raumes angefochten: das klar geschiedene Innen-Außen-Territorium des Kolonialsystems ist nicht haltbar, die Landkarte des Kolonialismus muss neu gezeichnet werden. Die Beziehungen und Prozesse verlaufen nicht einseitig zwischen Zentrum (imperialer Metropole) und Peripherie, sondern als ein Geflecht von Wechselbeziehungen: auch zwischen Peripherie und Zentrum sowie der Peripherien untereinander, global und lokal.
Danach ist die Kolonisierung keine Nebenhandlung auf dem Schauplatz der (imperialistischen) Weltgeschichte. Die Geschichte der Kolonisation soll nichts weniger als den Mittelpunkt einer ganz neuen Geschichtsschreibung darstellen.
Hall, Stuart: „Wann war ‚der Postkolonialismus‘? Denken an der Grenze“. In: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 219-246
Binarität
Binarität bezeichnet das Denken in sich gegenseitig ausschließenden Oppositionen oder Polen. Für den postkolonialen Diskurs reklamiert Hall, dass binäres Denken die Komplexität und Ambiguität der heutigen globalisierten und trankskulturell geformten Welt nicht mehr erklären kann. Grenzziehungen im Zuge politische Positionierungen (im antikolonialen Kampf oder Selbstverständnis) sind unmöglich geworden. Als klassisches postkoloniales Ereignis sieht Hall den Golfkrieg mit seinen verwischten Grenzen von „gut“ und „böse“ und ambivalenten Fronten.
Im Grunde bezweifelt er die Berechtigung von binärem Interpretieren überhaupt; politische Grenzziehungen und Positionierungen sind nicht unterschiedslos auf historische Situationen und Konstellationen anwendbar, sondern konstruiert und daher endlich. Binäre Lesarten von „Drinnen – Draußen“, „hier – dort“, „diese – jene“, „damals –heute“, „Inland – Ausland“ – kurz: „the West and the rest“ lassen sich nicht aufrecht erhalten, sondern sind selbst nur Formen von Transkulturation. Das gilt sogar für die Polarität Kolonialisierter – Kolonialherr und zwingt so dazu, auch die Geschichte der Kolonisation von da aus neu zu interpretieren.
Hall, Stuart: „Wann war ‚der Postkolonialismus‘? Denken an der Grenze“. In: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 219-246
Postkolonialismus
Definition: Auf der deskriptiven Ebene bezeichnet Postkolonialismus den „Prozess der Loslösung von einem ganzen kolonialen Syndrom“ (Hulme). Kolonisation ist das überdeterminierende, alles überwölbende „Herrschafts-, Macht- und Ausbeutungssystem“, dessen Auswirkungen nie unvollständig überwunden wurden und das daher für die Krisen der heutigen Welt verantwortlich ist. Die Charakteristika des Übergangs sind die Dekolonisierung und Gründung neuer Nationalstaaten, die Formen ihrer ökonomischen Entwicklung, d.h. der neokolonialen Abhängigkeit von der kapitalistischen Welt und den Folgen von Unterentwicklung, die Entstehung einheimischer Machteliten und die Verlagerung des Konflikts Kolonialherr-Kolonisierter in die entkolonialisierten Länder selbst.
Gleichzeitig geht der Begriff „Postkolonialismus“ über die historische Phase der Kolonialisierung und Entkolonialisierung hinaus und betrachtet Kolonisation als „Erkenntnis- und Repräsentationssystem“ (Präfix "post" markiert Periodisierung und stellt epistemologische Kategorie dar.)
Hall, Stuart: „Wann war ‚der Postkolonialismus‘? Denken an der Grenze“. In: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 219-246