Identität und Differenz (Hall)

Identität ist niemals vollständig: ihr fehlt immer das Andere, das konstitutiv ist für sie. Das gilt nicht nur für die Identitätsbildung des Individuum (Lacan), sondern ebenso für die kollektiven, auch ethnischen Identitäten. Nicht Singularität, Homogenität, Authentizität – „Essenz“, Wesenhaftigkeit - machen Identitäten aus, sondern sie sind arbiträr, kontingent, hybrid. Differenz steht nicht im Widerspruch zu Identität, sondern ist ihr wesentlicher Teil. Daraus folgt, dass es keine Identität gibt, die jemals eine Einheit oder etwas Abgeschlossenes sein kann - sie ist in sich durch Differenz markiert.
So weit folgt Hall dem différance-Begriff von Derrida. Das von Derrida angenommene „endlose Spiel der Differenzen“ verwirft er allerdings als zu akademisch und greift das Konzept von Laclau auf, nach dem zwar Bedeutung unmöglich fixiert werden kann, jeder Diskurs aber versucht, das Feld zu beherrschen. Dem dominanten Teilnehmer gelingt es zeitweilig, das Fließen der Differenzen aufzuhalten, um ein Zentrum zu konstruieren (Rezentrierung) und bestimmte Signifikanten zu privilegieren. An diesen Punkten entstehen Äquivalenzketten, der Bedeutungsfluss wird aufgehalten und an kontingenten Punkten willkürlich geschlossen. So entsteht die Fiktion von „Einheit“ und kollektiver sozialer Identität. Diese Einheit besteht nicht notwendig und kann auch wieder gelöst werden.

Hall, Stuart: „Wann war ‚der Postkolonialismus‘? Denken an der Grenze“. In: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 219-246

Periodisierung

Postkoloniale Periodisierung nimmt „das rückblickende Umformulieren der Moderne innerhalb des Kontexts der ‚Globalisierung’ in all ihren diversen sprengenden Formen und Momenten“ von „1492“ bis zur Internationalisierung der Finanzmärkte vor:  der eurozentristisch-hegemonialen Behauptung des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus als der gültigen Periodisierung der Geschichte der Moderne (als "grand recit“ nach Lyotard) setzt sie die Kolonialisierung  als neue Großnarrative von „Rang und Bedeutung eines zentralen, umfassenden, Strukturen sprengenden welthistorischen Ereignisses“ entgegen. Die vielen, vielfältigen Geschichtlichkeiten der Peripherien, die global/lokalen Wechselbeziehungen, die Diffenzierungen und Dezentrierungen, Entortungen und Verlagerungen neben den vertikalen Beziehungen Colon-Kolonialherr werden als das Hauptmerkmal der Geschichte der Moderne genommen.
Die Ambiguität des Begriffs, die mit dem Verzicht auf eine historische Einteilung in„epochale Stadien“ einhergeht, wird in Kauf genommen zugunsten des Verständnisses der Kolonialisierung als noch andauerndem Prozess.

Hall, Stuart: „Wann war ‚der Postkolonialismus‘? Denken an der Grenze“. In: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 219-246


Kolonisation

Die Kolonisation – der Zeitraum seit der ersten  Entdecker- und Erobererzüge („1492“) bis zur heutigen Form der Globalisierung – hat sich in die Kulturen der Kolonisierten eingeprägt und sie irreversibel  transformiert. Ein Zurück „zu den Ursprüngen“ oder zu kolonial unverseuchten, unberührt gebliebenen Wurzeln gibt es nicht.
Dabei ist die transkulturelle Umformung keineswegs auf die kolonisierten Regionen beschränkt, sondern umfasst gleichermaßen die imperialen Metropolen.
Hall will – im Gegensatz zum Kolonialdiskurs anderer Theorien - die koloniale Begegnung nicht als binäre Opposition Colon –Kolonialherr verstanden wissen, sondern neu lesen als beiderseitige, wechselseitige Form der Transkulturation.
Konsequent wird auch das Verständnis der kolonialen Raumes angefochten: das klar geschiedene Innen-Außen-Territorium  des Kolonialsystems ist nicht haltbar, die Landkarte des Kolonialismus muss neu gezeichnet werden. Die Beziehungen und Prozesse verlaufen nicht einseitig zwischen Zentrum (imperialer Metropole) und Peripherie, sondern als ein Geflecht von Wechselbeziehungen: auch zwischen Peripherie und  Zentrum sowie der Peripherien untereinander, global und lokal.
Danach ist die Kolonisierung keine Nebenhandlung auf dem Schauplatz der (imperialistischen) Weltgeschichte. Die Geschichte der Kolonisation soll nichts weniger als den Mittelpunkt einer ganz neuen Geschichtsschreibung darstellen.

Hall, Stuart: „Wann war ‚der Postkolonialismus‘? Denken an der Grenze“. In: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 219-246


Binarität

Binarität bezeichnet das Denken in sich gegenseitig ausschließenden Oppositionen oder Polen. Für den postkolonialen Diskurs reklamiert Hall, dass binäres Denken die Komplexität und Ambiguität der heutigen globalisierten und trankskulturell geformten Welt nicht mehr erklären kann. Grenzziehungen im Zuge politische Positionierungen (im antikolonialen Kampf oder Selbstverständnis) sind unmöglich geworden. Als klassisches postkoloniales Ereignis sieht Hall den Golfkrieg mit seinen verwischten Grenzen von „gut“ und „böse“ und ambivalenten Fronten.

Im Grunde bezweifelt er die Berechtigung von binärem Interpretieren überhaupt; politische Grenzziehungen und Positionierungen sind nicht unterschiedslos auf historische Situationen und Konstellationen anwendbar, sondern konstruiert und daher endlich. Binäre Lesarten von „Drinnen – Draußen“, „hier – dort“, „diese – jene“, „damals –heute“, „Inland – Ausland“ – kurz: „the West and the rest“ lassen sich nicht aufrecht erhalten, sondern sind selbst nur Formen von Transkulturation. Das gilt sogar für die Polarität Kolonialisierter – Kolonialherr und zwingt so dazu, auch die Geschichte der Kolonisation von da aus neu zu interpretieren.

Hall, Stuart: „Wann war ‚der Postkolonialismus‘? Denken an der Grenze“. In: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 219-246


Postkolonialismus

Anspruch: Herkömmliche Kategorien können den radikalen Wandel der globalisierten Welt nicht mehr adäquat beschreiben und erklären. Das vorherrschende binäre Weltverständnis, in dem die Kolonialisierung immer gesehen worden ist, ist spätestens jetzt, angesichts der Komplexität der Globalisierung, an seine Grenzen gekommen. Die postkolonialistische Theorie erhebt den Anspruch, den Wandel in den globalen Beziehungen im Übergang vom Zeitalter der Imperien zum Zeitpunkt der Post-Unabhängigkeit/Post-Entkolonialisierung zu markieren, zu beschreiben und zu charakterisieren,  die neuen Beziehungen und Machtverhältnisse zu erkennen und Antworten auf die Fragen der kulturellen Macht und des politischen Widerstands zu finden.

Definition: Auf der deskriptiven Ebene bezeichnet Postkolonialismus den „Prozess der Loslösung von einem ganzen kolonialen Syndrom“ (Hulme). Kolonisation ist das überdeterminierende, alles überwölbende „Herrschafts-, Macht- und Ausbeutungssystem“, dessen Auswirkungen nie unvollständig überwunden wurden und das daher für die Krisen der heutigen Welt verantwortlich ist. Die Charakteristika des Übergangs sind die Dekolonisierung und Gründung neuer Nationalstaaten, die Formen ihrer ökonomischen Entwicklung, d.h. der neokolonialen Abhängigkeit von der kapitalistischen Welt und den Folgen von Unterentwicklung, die Entstehung einheimischer Machteliten und die Verlagerung des Konflikts Kolonialherr-Kolonisierter in die entkolonialisierten Länder selbst.
Gleichzeitig geht der Begriff „Postkolonialismus“ über die historische Phase der Kolonialisierung und Entkolonialisierung hinaus und betrachtet Kolonisation als „Erkenntnis- und Repräsentationssystem“ (Präfix "post" markiert Periodisierung und stellt epistemologische Kategorie dar.)

Hall, Stuart: „Wann war ‚der Postkolonialismus‘? Denken an der Grenze“. In: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 219-246